Harmonie Pur

Es ist so weit. Ein großes Ereignis steht bevor. Der Tornado wird 16 und ich verstehe wirklich nicht, wieso jemand auf die Idee käme er wäre in diesem Alter in der Lage wählen zu gehen. Was ist mit wohlüberlegten abgewägten Entscheidungen? Was ist mit politischem Hintergrundwissen? Mit Raison und dem Sinn für weitreichende Entscheidungen? Doch dann erinnere ich mich an meine erhitzte Erstwählerdiskussion mit Henning Voscherau über die Legalisierung von Cannabis und mir wird klar: Nein, das eben ist Demokratie. Es gibt keine Ideal Lösungen, das Leben ist nicht ideal, es ist!

Die Pubertät ist eine unbequeme Zeit. Für alle Beteiligten, es ist vermutlich die Zeit, in der alles anders wird, oder vielmehr deutlich wird, dass alles schon immer anders war, aber jetzt bricht es endlich ans Tageslicht. Mein Sohn und ich sind verschieden, wir stehen einander GEGENüber. Und Gegen knirscht nun mal meist.

Dabei wünsche ich mir doch Harmonie. In meinen Visionen sitze ich mit meiner Familie am Abendbrotstich während Stehgeiger die Titelmelodie vom Brady Bunch spielen. Wir reichen uns gegenseitig das Wasser, den Salat und gesunde und leckere Dinge und erzählen uns von unserem Tag. „Rrrt, rrrrt“ macht irgendein Handy und reißt mich aus meiner Phantasie. Jemand hat die drölfte Whatsapp bekommen und liest sie heimlich unter dem Tisch. Währenddessen hat sich der Tornado einen zweiten Teller geholt um all das, was er nicht mag auszusortieren. „Igitt Broccoli“ sagt er, und „Du hast das falsche Öl genommen für die Würstchen, ich esse nur in kaltgepresstem Rapsöl gebratenes.“ „Keiner zwingt dich hier überhaupt was zu essen“ sage ich. „So wie du kochst werde ich hier jedenfalls nicht satt!“ sagt der Tornado, und dass er von diese Sorte Käse leider kotzen müsse. Er untermalt das ganze mit Würgegeräuschen. Meine Finger krallen sich um mein Glas, es könnte zerspringen so wie ich zu drücke. So wie im Film. Aber es ist ein Senfglas von Aldi und kein Bleikristall.

Der Moment der Wahrheit ist gekommen. Ich merke, wie mir die Tränen in die Augen schießen und sich schon wieder verletzte und wütende Sätze in meinem Rachen formen doch dann erinnere mich an die weisen Worte meiner Therapeutin: „Sie wollen Harmonie? Von zwei pubertierenden Söhnen? Na dann viel Glück! Waren Sie nicht auch mal in der Pubertät?“

Innerlich leiste ich meiner Mutter etwas Abbitte und dann schrei ich gepflegt eine Runde rum, schicke den Tornado in sein Zimmer und sitze mit dem Lütten am Tisch. „Lieblingskind!“ sage ich durch die Zähne. „Reich mir doch bitte mal das Wasser, ach vergiss es, ich mach mir einen Vodka Tonic!“ „Rrrt, rrrt“ macht es unter dem Tisch. Der Lütte schaufelt hastig drei Gabeln in den Mund und verschwindet zu seinem Kumpel. Ich sitze harmonisch alleine da und bete um Lösungen.

Und es kommt eine. Ich bitte den Tornado an den Tisch und versuche ein ernstes Gespräch. „In guten wie in schlechten Zeiten“ sag ich. „Und in gutem Essen wie in nicht so direkt deinem Lieblingsessen. Wenn Du mein Essen nicht willst, dann bitte in aller Konsequenz, wir trennen unseren Haushalt, wer mein Gemüse nicht isst bekommt auch nicht meine Schokolade.“ Ich rechne ihm aus, wie viel Geld ich wöchentlich für unsere Familie für Essen ausgebe und gestehe ihm ein drittel davon zu. „ Mach dir eine Liste was du alles brauchst, ich gebe dir dann das Geld für eine Woche.“

Es fällt mir schwer. Es fällt mir so verdammt schwer diese Freiheit zuzugestehen. Es knirscht so ziemlich alles in mir und ich will das nicht. Ich will HARMONIE verkackte Axt, nicht diese ewigen Verhandlungen und Grenzabsteckungen. Ich nehme meinen Vodka Tonic und gehe in mein Zimmer und gucke eine Serie in der es glückliche Familienmitglieder gibt. Utopia. Schöne Scheinwelt. Giesst doch bitte Öl auf mein Feuer!

Zwischendrin nervt mich alle fünf Minuten der Tornado. Ob er meine Butter mit benutzen darf, mein Nutella, meinen Espresso. „Nein“ sage ich. Ich finde diese Lösung scheisse, ich will das wir MITeinander essen, kochen, leben, nicht noch mehr voneinander abgetrennt, aber er will gerade diese Freiheit. Und diese Freiheit kommt mit Verantwortung. Das weiß sogar Spiderman.  Ich war in seinem Alter genauso, ich wollte auch ganz furchtbar frei sein, was für meine Mutter damals der Anlass war die Zügel noch fester in die Hand zu nehmen. Daran erinnere ich mich. Damals erzog man noch anders, und ich erinnere mich auch an all die Konflikte die daraus entsprangen und ICH WILL HARMONIE. Dann eben in friedlicher Koexistenz und ohne Heiligenschein. Der Weg dorthin ist nur so unharmonisch.

Nach zwei Stunden kommt der Tornado mit zwei DIN A 4 Seiten an. Eine ambitionierte Liste. Und ich muss ihm einräumen dass er an fast alles gedacht hat. Sogar Gewürze hat er aufgeschrieben. Ich mach das Portemonnaie auf und ziehe ein paar Scheine raus. „Das musst du mischkalkulatorisch angehen“ sage ich. „Am besten überlegst du dir was davon du dir diese Woche wirst leisten können.“ „Toll!“ sagt der Tornado. „Wann fährst du mich zum Einkaufen?“ „Gar nicht“ sage ich. „Aber wie soll ich das alles tragen?“ fragt er. „Dein Problem, nicht meins“ entgegene ich gelassen.

Der Tornado verschwindet mit der wehenden Liste.

Eine Stunde später kommt er wieder an. „Mama“ sagt er. „Ich hab nochmal nachgedacht. Ich fühl mich irgendwie noch nicht reif dafür. Darf ich bitte, bitte wieder bei dir mitessen?“

„Es ist noch Broccoli im Topf“ sage ich, „und ein paar Würstchen die in kaltem Fett in der Pfanne rumliegen“ Der Tornado guckt mich an. Ein Hauch von Verzweiflung ist in seinem Blick. Er weiß genau, er steht auf dünnem Eis. „Oh“ sagte er. Seine Lippen bewegen sich kaum, die Zähne sind aufeinander gepresst.“ Lecker, tja, dann setze ich mich mal an den Tisch.“

Er geht raus und ich lache in ein Kissen. Herrlicher Sieg! Ich gehe in die Küche. Der Tornado ertränkt seinen Broccoli gerade in einem Liter Ketchup und guckt nebenher Youtube Videos. Ich hol mir noch einen Longdrink. Wir sind Harmonie pur!